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Über

حول

Kontext

السياق

Im Jahr 2003 marschierte eine von den USA angeführte Koalition in den Irak ein und führte ein politisches und wirtschaftliches System ein, das auf konfessionellen Quoten basiert. Soziale Spannungen brachen in blutige konfessionelle Konflikte aus. Nach dem Abzug der US-Truppen 2011, kam es weiterhin zu sektiererischen Aufständen. 2014 nahm der IS ein Drittel des Iraks ein. Nach vier Jahren Krieg wurde der IS besiegt.

2019 brachen vor allem im südlichen Irak die größten Proteste seit 2003 aus. Hunderttausende gingen im ganzen Land auf die Straße - darunter eine noch nie dagewesene Anzahl von Frauen. Die von der Jugend angeführte Grassroots Bewegung versuchte die Krise im politischen System auf der Straße anzugehen. Politische Diskussionen, die zuvor in den Hinterzimmern des Regimes stattfanden, wurden nun öffentlich geführt. Die Demonstrant:innen forderten Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit sowie den Sturz des gesamten Regimes seit 2003. Eine aufstrebende Generation schien aufzustehen und ihre schon lange versprochenen bürgerlichen Rechte einzufordern. Ihre Forderung war: "Wir wollen ein Heimatland!" 

Zeltstädte wurden auf Plätzen errichtet, wobei die bedeutendste auf dem Tahrir-Platz in Bagdad entstand. Sie waren eine neue Vision des Iraks: Gewaltfreie Formen des Protests, Geschlechtergleichheit, Meinungsfreiheit, Kunst sowie die Ablehnung von Korruption, politischem Sektierertum und dem Einfluss ausländischer Mächte und Religion. 

Der Irak ist ein Land der Teenager: Das Durchschnittsalter liegt bei 21 Jahren; fast 50 % der irakischen Bevölkerung ist jünger als 18 Jahre alt, hat kein Wahlrecht und kaum eine Zukunftsperspektive. 

Die herrschenden Eliten reagierten mit extremer Gewalt. 782 Menschen wurden getötet und 33.000 verletzt. Dennoch erzielte die "Oktober Revolution" wichtige politische Erfolge: Der Premierminister trat zurück, es wurden vorgezogene Wahlen angesetzt und ein neues Wahlgesetz verabschiedet, das Raum für frische und junge Stimmen im Parlament schuf. 

Jedoch schafften es die etablierten politischen Kräfte und Organisationen, die "Oktober-Revolution" für sich zu vereinnahmen. Die Kandidaten der "Oktober Revolution" konnten sich bei den Wahlen im Oktober 2021 nicht gegen alteingesessene Politiker durchsetzen. Ein Machtkampf innerhalb des irakischen Regimes setzte sich fort, und nach gewaltsamen Auseinandersetzungen bildete sich 2022 eine pro-iranische Koalition, die eine neue Regierung bildete.

Regieanmerkung

رؤية المخرجة

Ich bin politisch aktiv, seit ich 18 Jahre alt bin. Im Herbst 2019 lernte ich in Berlin A. kennen, einen Aktivisten aus Bagdad, als die sogenannte “Oktober Revolution” auf ihrem Höhepunkt war. Was A. von der “Oktober Revolution” erzählte, hat mich inspiriert. Ich war beeindruckt vom unglaublichen Mut der jungen Aktivist:innen, die trotz überwältigender Gewalt für mehr Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und eine bessere Zukunft kämpfen. Wir beschlossen, gemeinsam einen Film zu machen, um eine Generation zu zeigen, die vom Rest der Welt oft übersehen wird.

Aus persönlichen und sicherheitstechnischen Gründen musste sich A. später aus dem Projekt zurückziehen. Weil ich bereits ein Netzwerk in Bagdad aufgebaut und Protagonisten gefunden hatte, beschloss ich, den Film dennoch alleine weiter zu machen. Als Aktivistin und ausländische Filmemacherin fühlte ich mich verpflichtet, die Geschichten und Kämpfe der jungen Menschen, die ich kennenlernte, weiterzugeben.

Für mich sind die Iraker:innen die Expert:innen ihrer Situation. Meine Rolle als Regisseurin empfinde ich als die einer Übersetzerin. Khalili wollte sein Filmmaterial der “Oktoberrevolution” unbedingt einer ausländischen Filmemacherin anvertrauen, um seine Geschichte ohne Zensur zu erzählen und außerhalb des Iraks gesehen zu werden.

Mir war es sehr wichtig, auch die Stimme einer Frau im Film zu haben. Nicht nur waren Frauen sehr präsent in der Revolution, sie kämpfen - in einer geschlechtergetrennten Gesellschaft wie der irakischen - mit anderen Problemen als Männer. Während Männer sozusagen direkt gegen den Staat auf die Straße gehen können, müssen sich viele Frauen zunächst von patriarchalen Zwängen befreien, bevor sie überhaupt an Protesten teilnehmen können. Es war nicht leicht, eine Frau zu finden, die in einem Film mitwirken kann und will. Doch Milo hat von Anfang an Ideen eingebracht und war trotz des Risikos bereit, mitzumachen.

Vom ersten Tag an war ich in stetem Austausch mit allen Beteiligten, mit Milo und Khalili täglich - außer den zwei Monaten während Milos Verschwinden. Ich habe drei Recherchereisen unternommen und konnte ein außerordentliches Vertrauen zu den Protagonist:innen und der irakischen Crew aufbauen. Unser irakischer Produzent Mohammed Alghadhban wurde mein Sparringspartner. Er klärte mich über sicherheitsrelevante Grenzen auf und öffnete mir viele Türen. Während des gesamten Prozesses am Set war es mir wichtig, dass die irakische Crew die Schweizer:innen in unserer Filmcrew zahlenmäßig übertreffen. Die Zusammenarbeit mit dem in Deutschland lebenden arabischen Cutter Alex Bakri sollte darüber hinaus einer westlichen Voreingenommenheit entgegenwirken.

Wir entschieden uns gegen heimliche Dreharbeiten, um die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten. Diese Einschränkung wirkte sich auf den Dreh und die Erzählweise aus und führte mich zu einer subjektiven hybriden Erzählform («Re-Enactment»). Die Protagonist:innen wurden stark in das Nachdenken über Szenen und die Entwicklung der Charaktere einbezogen. Die nachgestellten Szenen wurden entlang dramaturgischer Bögen gedreht, zeigen aber Ereignisse oder Dialoge, die auf diese Weise stattgefunden haben.

Milo und Khalili sind zwei sehr unterschiedliche Protagonist:innen, die sich gegenseitig spiegeln und ergänzen. Der Film ist in drei Kapitel gegliedert und bringt ihre Individualität durch unterschiedliche filmische Darstellungs- und Erzählweisen entschieden zum Ausdruck. Das Rückgrat des Films bildet das Leben von Milo und Khalili in der Gegenwart, wobei Milos Geschichte nach der Revolution den dramatischen Bogen spannt. In Rückblenden tauchen wir in Khalilis persönliche Videoaufnahmen von der Revolution ein und erfahren, wie dieser Aufstand das Leben der Protagonist:innen tiefgreifend verändert und eine ganze Generation geprägt hat.